Als das Sinus-Institut begann, die Werte und Lebenswelten der Deutschen zu untersuchen, hieß der Bundeskanzler noch Helmut Schmidt…,

….der Krieg war kalt und über die Mattscheiben flimmerten nur ARD, ZDF und die dritten Programme. Ilja Richter rief “Licht an, Spot aus!”, Hans Rosenthal “Dalli, Dalli”. Pink Floyd besang die dunkle Seite des Mondes und Klementine warb für Ariel. Im Westen. Denn in Berlin stand die Mauer, und noch senkte sich der Eiserne Vorhang auch zwischen BRD und DDR, wo die Menschen die Puhdys hörten und “Ein Kessel Buntes” schauten. Staatsratschef Erich Honecker glaubte noch, die Mauer würde ewig stehen (die meisten Menschen im Westen glaubten das auch). Es war die Zeit der Abschreckung, in der sich die Bevölkerung auf beiden Seiten der Mauer gleichzeitig bedroht und doch schrecklich sicher fühlte.

Seit dieser Zeit gehören die Milieu-Studien des Unternehmens, das heute Sinus Sociovision heißt, zum Handwerkszeug vieler Marketers. Regelmäßige Updates tun natürlich not,  denn der Mantel der Geschichte weht ständig und verändert Land und Leute. Deutschland ist seit zwei Jahrzehnten wieder eins und irgendwie doch nicht. Wiedervereinigung, Zerfall des Ostblocks, Aus- und Aufbau der EU, der Euro, Kohl, Schröder, Merkel, 9/11, Irak,  Afghanistan… mit Billy Joel möchte man ausrufen “We didn´t start the fire!” Und doch stecken wir mittendrin.

Die Sinus-Milieus sind wie eine Bestandsaufnahme. Sehr soziologisch natürlich, eine Zustandsbeschreibung für Entscheider, die wissen müssen, wie es um den Wertekanon und Verwirklichungsstatus der Menschen bestellt ist. Jetzt liegen die Sinus-Milieus 2010 vor. Sie spiegeln den raschen Wandel der letzten Jahre wieder, die Beschleunigung des Lebens, die Aufweichung des Privaten, die Erosion der Familenstrukturen, die Digitalisierung und das Sanduhr-Phänomen der sozialen Schichtung. Hier Hartz IV, dort der Wohlstand. Längst präsentiert die “nachhaltig veränderte Milieulandschaft”, so Sinus, die gesamtdeutsche Realität, eine kompliziertere, denn während die Lebens- und Wertewelten der Menschen auseinander driften, entstehen auch neue Synthesen.

Die Gesellschaft, so ein Fazit der Sozialforscher, formiert sich neu: “Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Die digitale Spaltung nimmt zu. Die Zeit kontinuierlicher Wohlstands- und Sicherheitsgewinne ist vorbei. Durch Einschnitte in den Sozialstaat und die Privatisierung von immer mehr Lebensrisiken werden sozial schwächere Milieus benachteiligt und tendenziel überfordert.” Und die Mitte, dieser über Jahrzehnte leistungstragende Teil der Gesellschaft? “Sie ist unter Druck geraten und grenzt sich verstärkt nach unten, und neuerdings auch nach oben, ab. Ein Teil zieht sich zurück, ein anderer Teil bleibt statusoptimistisch.”

Auf Ebene der Werte wächst laut Sinus zusammen, “was bisher nicht zusammen gehörte.” Es entwickelten sich neue Wertesynthesen, die nicht mehr der Logik des “entweder – oder” sondern eher dem “sowohl – als auch” folgten. Besonders junge Milieus seien in der Lage, das Widersprüchliche zu integrieren. “Alte” Werte wie Sicherheit, Einordnung, Leistung oder Familie würden zeitgemäß interpretiert und mit hedonistisch-ichbezogenen und individualistischen Zielen verbunden. Konservative Werte seien en vogue, würden aber umgedeutet. Es gebe keine Rückkehr aufs Biedermeier-Sofa.

Einen besonderen “Wertecocktail” glaubt Sinus im neu entdeckten “Expeditiven Milieu” ausgemacht zu haben: Hier ist man gleichzeitig pragmatisch und subkulturaffin, leistungsorientiert und partybegeistert, zielstrebig und gelassen. Das Milieu der Uneindeutigen. Diese elitären sechs Prozent anzusprechen ist für das Marketing eine besondere Herausforderung.

Für Marketers lohnt sich die Beschäftigung mit den neuen Sinus-Milieus allemal, auch wenn sie nicht mit ihnen arbeiten. Sie erlauben eine Gesamtschau auf die großen Zielgruppencluster. Die Milieus verfeinern das Gespür für die Lage der Nation im Allgemeinen und die Lage der Menschen im Besonderen. Einst hatte Sinus fast die Deutungshoheit über die Befindlichkeit der Menschen. Diese Rolle ist in unserer ausdifferenzierten Sozial- und Marktforschungsszene mittlerweile passé. Dem Erkenntnisgewinn aus der Milieuforschung tut dies aber keinen Abbruch.