18.11.2013 – Mit seinem neuen Buch “Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft” reibt der Psychologe und Psychoanalytiker Paul Verhaeghe von der Universität Gent Salz in die Wunden unserer Zeit. Seine Kernaussage: Der Neoliberalismus und das meritokratische System, in dem der Mensch nach seinem messbaren “Output” bewertet und in Erziehung und Bildung auch daraufhin optimiert wird, machen krank. Schlimmer noch, die Objektivität der Bewertungen werde oft vorgegaukelt und Eigenheiten eines Menschen würden zu psychischen Krankheiten erklärt, nur weil sie nicht der gültigen sozialen Norm entsprechen.
Verhaeghe erinnert daran, dass sich die Identität eines Menschen, wie er sich fühlt und was er über sich denkt, eben auch über die Spiegelung von außen herausbildet. Neben den effizienzbasierten Bonus- und Malussystemen in Schule, Hochschule und Arbeitswelt, so seine Argumentation, beeinflussen auch die durch die Werbung vermittelten Botschaften das Selbstbild der Menschen: Jugendlichkeit, Glück durch Konsum und die Idee, jeder könne sich selbst verbessern, wenn er sich nur ordentlich anstrenge. So sei eine Welt entstanden, in der viele Menschen – völlig ohne Not – einen Selbstmangel und eigene Unzulänglichkeit spüren, in Identitätskrisen fallen und psychisch erkranken. Sie verlieren sich im Spannungsfeld zwischen dem propagierten Individualismus und des für die eigene Identität so wichtigen Gemeinschaftssinns, also dem Wunsch, sich zu identifizieren und Teil eines größeren Ganzen zu sein.
In seiner Argumentation bleibt Verhaeghe ideologisch unverdächtig und gibt dem Buch dadurch eine besondere Kraft. Er bedient sich der Philosophie sowie klinischer Studien und Experimente, um seine Thesen zu stützen. Nicht mal im Ansatz entwirft er eine gesellschaftliche, geschweige denn linke Utopie; allenfalls bezieht er sich auf den französischen Philosophen Michel Foucault und dessen Forderung nach Liberalismus als kritische Gegenbewegung – womit die parteipolitische Bedeutung des Begriffs ausdrücklich nicht gemeint sei. Ihm schwebt ein politisches System vor, das die “schwierige und notwendige Balance von Übereinstimmung und Verschiedenheit herstellt, von Gruppe und Individuum, von diktierter Gleichheit und freier Wahl”. Dass sich diese Zielvorstellung nicht herbeizaubern lässt, ist ihm natürlich bewusst, und so appelliert er mit dem Cassius aus Shakespeares Julius Cäsar an die Selbstverantwortung des Einzelnen: “Durch eigne Schuld nur sind wir Schwächlinge.”
Verhaeghes “Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft” ist eine klare Leseempfehlung und ein Denkanstoß für alle, die Verantwortung in Politik und Wirtschaft tragen.
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