Große Trauer, große Leistung: das FAZ-Feuilleton für Frank Schirrmacher

14. Juni 2014 – Peu à peu schreibt sich die Redaktion der FAZ durch Schock und Trauer nach dem plötzlichen Tod ihres Feuilleton-Chefs und Mitherausgebers Frank Schirrmacher. Die ersten Reaktionen vorgestern online, dann gestern der große Beitrag im Feuilleton und heute das ganze Ressort geprägt von und für Schirrmacher. Immer größere, konzentrische Kreise, in denen sich die FAZ dem Ausmaß des Verlusts annähert. Ein so trauriger Anlass, eine so große Leistung. Das FAZ-Feuilleton von heute ist zu einem Manifest des freien und mutigen Denkens geraten. Eine Muss-Lektüre für alle, deren Verständnis von gesellschaftlicher Entwicklung auf dem offenen, demokratischen Diskurs beruht. Und für all jene, die sich vergegenwärtigen möchten, welche mächtigen gedanklichen Bugwellen Frank Schirrmacher auszulösen vermochte. Online lesen hilft übrigens nur bedingt, genau dem Richtigen schlägt hier und heute eine Sternstunde von Print. Zur Onlineberichterstattung der FAZ geht´s hier, der zweite Weg sollte heute noch zum Kiosk führen.

FAZ vom 14. Juni 2014

 

Buchkritik: “Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft.”

18.11.2013 – Mit seinem neuen Buch “Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft” reibt der Psychologe und Psychoanalytiker Paul Verhaeghe von der Universität Gent Salz in die Wunden unserer Zeit. Seine Kernaussage: Der Neoliberalismus und das meritokratische System, in dem der Mensch nach seinem messbaren “Output” bewertet und in Erziehung und Bildung auch daraufhin optimiert wird, machen krank. Schlimmer noch, die Objektivität der Bewertungen werde oft vorgegaukelt und Eigenheiten eines Menschen würden zu psychischen Krankheiten erklärt, nur weil sie nicht der gültigen sozialen Norm entsprechen. 

Paul Verhaeghe, "Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft." Verlag Anja Kunstmann, München 2013

Paul Verhaeghe, Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft, Verlag Antje  Kunstmann, München 2013

Verhaeghe erinnert daran, dass sich die Identität eines Menschen, wie er sich fühlt und was er über sich denkt, eben auch über die Spiegelung von außen herausbildet. Neben den  effizienzbasierten Bonus- und Malussystemen in Schule, Hochschule und Arbeitswelt, so seine Argumentation, beeinflussen auch die durch die Werbung vermittelten Botschaften das Selbstbild der Menschen: Jugendlichkeit, Glück durch Konsum und die Idee, jeder könne sich selbst verbessern, wenn er sich nur ordentlich anstrenge. So sei eine Welt entstanden, in der viele Menschen – völlig ohne Not – einen Selbstmangel und eigene Unzulänglichkeit spüren, in Identitätskrisen fallen und psychisch erkranken. Sie verlieren sich im Spannungsfeld zwischen dem propagierten Individualismus und des für die eigene Identität so wichtigen Gemeinschaftssinns, also dem Wunsch, sich zu identifizieren und Teil eines größeren Ganzen zu sein.

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