Antizyklisches Marketing – immer, wenn es in der Wirtschaft brennt, poppt diese Idee hoch und das Schlagwort schleicht in die Gedanken und Headlines. Nielsen Media Research hat jetzt vorgerechnet, dass die Top-100-Werbungstreibenden über Vorjahresniveau in die Above-the-Line-Werbung investieren. Das Bruttowerbebudget stieg in den ersten beiden Monaten um 12,5 Prozent. Das sind 150 Millionen Euro. Auch wenn hier die Brutto-Netto-Schere gnadenlos zuschnappen dürfte (wieviel ist bezahlt, wieviel Rabatt und Zugabe?), ist das ein ermutigendes Signal. Mehr nicht.
Nielsen tut gut daran, den Fachbegriff “Antizyklisches Marketing” gar nicht zu benutzen. Denn es könnte sich bei dem Werbeboom auch um den Versuch handeln, für dieses Jahr abzuschöpfen, was noch abzuschöpfen ist. Ich neige zu dieser Ansicht und erinnere an eine GfK-Untersuchung von Beginn dieses Jahres, die einen Zeitverzug in der Krisenanfälligkeit der Privataushalte belegte. Subjektiv hat viele die Krise noch nicht erreicht. Zum einen wirken die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale und die gesunkenen Energiekosten wie eine Einkommensspritze, zum anderen trifft die Krise den Arbeitsmarkt erst mit Verzögerung. Aber die Ruhe ist trügerisch. Ob die Unternehmen antizyklisches Marketing praktizieren, wird sich erst zeigen, wenn die Auswirkungen der Rezession auf den Privatkonsum in vollem Ausmaß sichtbar werden.
Jetzt rächt es sich, dass es außer flammenden Appellen zu offensivem Handeln und der einen oder anderen Case Study zum Thema wenig gibt. Die Marketing-Wissenschaft hat sich bisher nicht an das Thema “antizyklisches Marketing” herangetraut. Was für eine Lücke. So bleibt als Guideline die schon in die Jahre gekommene Studie von Boston Consulting Group und Gruner & Jahr “Gegen den Strom”.
Die BCG-Berater Dr. Bernd Hauptkorn und Antonella Mei-Pochtler wiesen damals in dem Beitrag “Die Schwächen der Konkurrenz nutzen” für die absatzwirtschaft nach, dass antizyklisches Verhalten in vielen Branchenkrisen zu signifikanten Marktanteilsgewinnen führte. Sie fanden diesen Zusammenhang unter anderem für die Automobilindustrie (Krise 1993), die OTC-Pharmabranche (1998), Süßwaren (2001) und Versicherungen (1999). Einziger Ausreißer: der Textilhandel.
In dieser Headline und den hier wiedergegebenen Teilergebnissen liegt wohl nach wie vor ein Teil der Antwort auf die Frage, für wen antizyklisches Marketing lohnen kann. Wer in seinem Wettbewerbsumfeld und seinem Markt eine finanzierbare Möglichkeit sieht, Wettbewerber auszuhebeln, der möge seine Spendings hochfahren oder höher halten als der Rest. Als generelle Strategieempfehlung scheint “antizyklisches Marketing” zu schwach, zumal die gesamte Diskussion mit der Einschränkung zu versehen ist: Gilt nur für Consumer-Märkte.
Die Notwendigkeit zur differenzierten Sicht belegen auch die Zahlen von Nielsen Media Research. Sie zeigen: Wer ohnehin viel in Werbung investiert, legt noch einmal eine Schüppe zu. Das gilt zum Beispiel für Spitzenreiter Media-Saturn, der brutto 19 Millionen Euro mehr und insgesamt 68 Millionen Euro in Werbung investiert hat. Andere stehen bereits auf der Bremse. Vodafone zum Beispiel hat in Januar und Februar nur noch ein Drittel des Vorjahresbudgets ausgegeben. Aber in ein paar Wochen werden wir wissen, wer die echten, strategischen Antizykliker sind und wer nur mal schnell den Absatz ankurbeln wollte. Jede Wette, dass vor allem der Handel sein Engagement hochhält.
Fachlich interessant wird sein, wie sich Procter & Gamble schlägt. P&G scheint auf pauschale Empfehlungen sowieso nicht angewiesen zu sein, denn die Company gilt als diejenige, die das so genannte Sales Modelling am intensivsten betreibt, also empirisch klärt, welchen Impact die Werbung auf den Abverkauf der Produkte hat. Wenn die Daten historisch weit genug zurückreichen, bis in die Krise in 2001/2002, wird P&G genauer als andere wissen, wie die Krise auf Absatz und Marktanteile wirkt – und was dagegen zu tun ist.